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Titel
Athenian Law and Society.


Autor(en)
Kapparis, Konstantinos A.
Erschienen
London 2019: Routledge
Anzahl Seiten
X, 358 S.
Preis
£ 125.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Pfeiffer, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Konstantinos Kapparis beleuchtet in dieser Studie die wechselseitigen Beziehungen und Einflüsse von Recht und Gesellschaft im antiken Athen. Neben Kontext und Entstehung der athenischen Gesetze untersucht er darin auch deren Bedeutung für und Einfluss auf das Leben und Handeln der Athener sowie auf die athenische Geschichte insgesamt. Eine umfassende Studie dieser Verschränkung von Recht und Gesellschaft ist Kapparis zufolge bisher ein Forschungsdesiderat und es ist sein erklärtes Ziel mit dieser Studie diese Forschungslücke zu schließen. Dabei hat er den Anspruch, sowohl Fachexpert/innen als auch Studierende und interessierte Laien zu informieren.

In der Einleitung (S. 1–17) gibt der Autor einen kurzen Überblick über die Entwicklung des athenischen Rechtssystems, ehe er ausführlich auf die Quellenlage eingeht und den Informationswert der Quellen – neben den attischen Gerichtsreden sind dies vor allem Zitate und Kommentare spätantiker Autoren, die aristotelischen Schriften und attischen Komödien – kritisch würdigt. Zuletzt wird ein fundierter Überblick über den Forschungsstand zu Recht und Gesellschaft des antiken Athens gegeben, wobei über die englischsprachige Forschung hinaus auch auf einige zentrale deutsche, französische und italienische Titel eingegangen wird. Anschließend untersucht Kapparis in insgesamt neun Kapiteln systematisch die Verschränkung von Recht und Gesellschaft. Seiner Fragestellung entsprechend legt er den thematischen Schwerpunkt auf oikos und Familie, denen allein vier Kapitel gewidmet sind. Darin werden verschiedene Aspekte, wie Heirats- und Nachfolgeregelungen sowie Scheidung, Ehebruch und Prostitution beleuchtet (Kapitel 3–6). Einen weiteren Schwerpunkt bilden die seitenmäßig umfangreichsten ersten beiden Kapitel. Im ersten Kapitel wird die Justizverwaltung untersucht, wobei die Kernfrage der „Rechtsstaatlichkeit“ der athenischen Demokratie gilt. Im zweiten Kapitel werden die verschiedenen Statusgruppen Athens – Bürger, Metöken und Sklaven – in den Blick genommen, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf ersteren liegt. Die Kapitel sieben bis neun sind „Gewalt- und Eigentumsdelikten“, Religion und dem sozialen Auffangnetz gewidmet. Es schließt sich ein kurzes Fazit an.

Die Kapitel sind übersichtlich in mehrere Unterkapitel gegliedert. Eine Auswahl der wichtigsten Quellen wird zu Beginn jedes Hauptkapitels in Originalsprache und englischer Übersetzung zitiert. Kapparis geht in den Kapiteln auf bestehende Quellen- und Forschungskontroversen ein und liefert meist ein gut begründetes eigenes Urteil. Die Kapitel enden jeweils mit kurzen Schlussfolgerungen. Die Ausführungen sind in der Regel gut belegt; die Anmerkungen sind als Endnoten den jeweiligen Hauptkapiteln angeschlossen. Damit wird insgesamt ein guter Lesefluss erreicht und dem Anspruch des Autors, auch für ein fachfremdes Publikum zu schreiben, Rechnung getragen. Die umfangreiche Bibliographie geht über die angelsächsische Literatur hinaus. Der Sach- und Personenindex bildet ein hilfreiches Nachschlaginstrument. Angesichts der umsichtigen Quellenarbeit ist es umso bedauerlicher, dass ein Quellenverzeichnis fehlt.

Kapparis gelingt es in dieser Studie, ein in weiten Teilen überzeugendes Bild der athenischen Gesellschaft und ihres Rechtssystems zu zeichnen, wobei er seine Fragestellung nach den Relationen beider nie aus dem Blick verliert. Sein Fokus liegt vor allem auf der athenischen Bürgerschaft, genauer den männlichen wahlberechtigten Bürgern, deren Verantwortlichkeit für die Ausprägung des athenischen Rechtssystems und der Gesetze Kapparis betont. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die athenische Demokratie auf den Prinzipien der „Rechtstaatlichkeit“ beruhte. Es habe sich um eine weitgehend friedliche und gesetzestreue Gesellschaft gehandelt, deren Rechtssystem von demokratischen Prinzipien geprägt gewesen sei (S. 313f.).

Obwohl Kapparis meist gut recherchiert und nachvollziehbar argumentiert und er sich auch nicht vor der Auseinandersetzung mit Forschungskontroversen scheut, gerät sein Bild der athenischen Gesellschaft in manchen Aspekten allerdings etwas zu positiv. Darin kommt seine Bewunderung für die „first democracy in history“ (S. ix; 1, vgl. S. 20) zum Ausdruck, der er im Vergleich mit dem modernen amerikanischen Rechtssystem sowie christlich geprägten Gesellschaften viel abgewinnen kann. So verweist er auf die Teilhabe der athenischen Bürger an legislativen und judikativen Prozessen, die allgemeine Rechenschaftspflicht religiöser und profaner Amtsträger und insbesondere auf die demokratischen Prinzipien, die allen Bürgern gleiche Rechte, den gleichen Zugang zu Ämtern und zum Rechtssystem gewährten. Dabei gerät allerdings die Tatsache aus dem Blick, dass nicht alle Einwohner Attikas in gleichem Maße von den „Errungenschaften“ der Demokratie profitierten. So waren Sklaven, Metöken und Frauen in unterschiedlichem Maße von demokratischen Rechten (und Pflichten) ausgeschlossen. Beispielsweise grenzt Kapparis die griechische Gesellschaft als denk- und diskussionsoffen von christlich geprägten Gesellschaften mit ihren Denk- und Lehrvorschriften und hierarchich-patriarchalen Kirchenstrukturen ab, versäumt es aber in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass auch die oikos-Strukturen und die griechische Gesellschaft insgesamt patriarchal und hierarchisch geprägt waren.1

Diskussionswürdig ist das erste Kapitel, in dem der Autor versucht, entgegen der gängigen Forschungsmeinung nachzuweisen, dass die athenische Demokratie alle wesentlichen Prinzipien der Rechtstaatlichkeit aufwies, wie sie vom World Justice Project definiert werden.2 Während es ihm relativ leicht fällt, die Gültigkeit der ersten Prinzipien nachzuweisen, bereitet es ihm einige Mühe, die Gültigkeit des Prinzips einer unabhängigen und unparteiischen Rechtsprechung zu belegen, was schon daran deutlich wird, dass er diesem Punkt mehrere Unterkapitel widmet. Gegen das Argument der Amateurhaftigkeit der athenischen Gesetze, des Agierens der Prozessparteien und Richter, wendet er ein, dass die Gesetze gewollt einfach und für jeden verständlich gehalten worden seien und dass die athenischen Laienrichter im Gegensatz zu Geschworenen moderner (britischer und amerikanischer) Rechtssysteme über große Erfahrung und Rechtsexpertise aus einer Vielzahl von Prozessen verfügten und daher weniger manipulierbar gewesen seien. Rechtsexperten konnten als Berater, professionelle Redenschreiber oder als Mitredner vor Gericht auftreten. Außerdem seien den meisten Gerichtsprozessen Schiedsverfahren vorausgegangen, deren Gründlichkeit und Effektivität Kapparis mit modernen Gerichtsverfahren vergleicht. Er verweist auf das große Vertrauen der Athener in ihr Rechtssystem, das nur bei einer hohen Rate konsistenter Urteile nachvollziehbar sei.

Trotz der Mühe, die Kapparis für seine Argumentation aufwendet, sind nicht alle Argumente ohne Widersprüche. Kapparis tut zwar gut daran, die Überlegenheit der modernen Judikative zu hinterfragen, doch ist insbesondere sein Bild der rational urteilenden Richter angesichts der Befunde aus den attischen Gerichtsreden, die ebenso stark auf emotionale wie rechtliche Argumente setzen und zum Teil auf die Unterhaltung der Richter ausgerichtet sind, zumindest diskussionswürdig. Ohne schriftliche Beweismittel, Bedenk- und Beratungszeit vor der entscheidenden Abstimmung, fiel das Urteil eher zugunsten des überzeugenderen Vortrags, dem nicht immer der bessere Rechtsanspruch zugrunde lag. Außerdem passen die Belege von Zwischenrufen und Lärmen der Dikasten während den Verhandlungen nicht zum Bild rational entscheidender Richter. Professionelle Logographen verfügten zwar über eine gewisse Rechtsexpertise, doch lag ihr Fokus vor allem auf der Rhetorik und dem Erfolg ihrer vermögenden Auftraggeber.3 Athener ohne Vermögen hatten wohl nur einen sehr beschränkten Zugang zu solchen Dienstleistungen, die den Ausgang eines Gerichtsverfahrens beeinflussen konnten. Kapparis tut zwar gut daran, die Bedeutung von Schiedsverfahren hervorzuheben, die in der Forschung bisher zu wenig herausgestellt wurde, doch war deren Urteil nicht bindend, wenn eine Streitpartei auf einem Gerichtsverfahren bestand. Zu bedenken ist außerdem, dass Kapparis vor allem aus einer amerikanischen Perspektive heraus urteilt. Im Vergleich mit anderen europäischen Rechtssystemen wäre das attische sicher kritischer zu bewerten.

Es zeigt sich, dass die Zuschreibung von Rechtstaatlichkeit in hohem Maße von der Deutung und Gewichtung einzelner Aspekte des athenischen politischen Systems und Rechtssystems abhängt und trotz der Bemühungen Kapparis‘ nicht zweifelsfrei geklärt werden kann. Wenn sie zutrifft, bestand sie in ihrer Gesamtheit nur für einen kleinen Teil der attischen Bevölkerung. Diesen Punkt blendet Kapparis zwar nicht aus, doch misst er ihm insgesamt zu wenig Bedeutung bei und zeichnet ein Bild der athenischen Gesellschaft, das ihrer Pluralität und Diversität nicht immer gerecht wird. Auch wenn Kapparis‘ Schlussfolgerungen in Teilen diskussionsbedürftig sind, ist ihm ungeachtet dessen eine gut recherchierte Studie gelungen, mit der er seinem Anspruch, eine Forschungslücke zu schließen, mehr als gerecht wird. Die Studie stellt einen wertvollen Forschungsbeitrag dar, der aber auch Raum für zukünftige Diskussionen des Themas lässt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004, S. 83–94.
2 Nach Kapparis, S. 23f. sind dies: 1. Accountability, 2. Just Laws, 3. Open Government, 4. Accessible and impartial dispute resolution; vgl. die Homepage des World Justice Project, https://worldjusticeproject.org/about-us/overview/what-rule-law (29.01.2020).
3 Vgl. für das Vorangegangene u.a.: Edith Hall, Lawcourt Dramas. The Power of Performance in Greek Forensic Oratory, in: Bulletin of the Institute of Classical Studies of the University of London 40 (1995), S. 39–59; Brenda Griffith-Williams, Rational and Emotional Persuasion in Athenian Inheritance Cases, in: Ed Sanders / Mathew Johncock (Hrsg.), Emotion and Persuasion in Classical Antiquity, Stuttgart 2016, S. 41–55.

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